Unmut
wir kommen immer zu spät, auf unserer Rundfahrt zu den ausgewählten Objekten sind die Bagger immer schon da, sie stehen auf den Schulhöfen, die wir aufsuchen; wenn sie mit ihrer Arbeit begonnen haben, gibt es kein Zurück mehr;
dem Dortmunder Schulbauprogramm geht ein Abrissprogramm voraus, das die baulichen Generationen von der Gründerzeit bis zu den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts umfasst; so etwas sucht seines Gleichen; wir müssen an Corbusiers Plan Voisin denken, der den Abriss weiter Teile des Pariser Altstadtbestands vorsah, um grundlegend Neues zu schaffen; abgesehen von der Dimension an Größenwahn, die mit der Idee eines solchen Umbruchs verbunden ist, ist heute klar, dass der Plan nicht nur städtebaulich in dieselbe Katastrophe geführt hätte, in der sämtliche Städte der Welt feststecken: im Dilemma der 50 bis 70 Jahre lang propagierten autogerechten Stadt, sondern neben der gigantischen Materialvernichtung auch eine Jahrhunderte alte Historie ausgelöscht hätte; aber über so etwas machte man sich vor 100 Jahren noch andere Gedanken;
der Dortmunder Plan Voisin, zumindest der hiesige Traum der autogerechten Stadt, ist schon lange umgesetzt, die Innenstadt nach den großen Zerstörungen im Oktober 1944 und im März 1945 im Sinne avantgardistischer Stadtplanung noch weiter abgeräumt, als die Bomben es getan hatten, und dann verkehrstauglich umgestaltet worden, einhelliger politischer und planerischer Konsens damals; die vier Kirchen blieben halbwegs erhalten – das war das Zeichen für den Wiederaufbau, was damals einfacher war als heute: bestanden die Kirchen doch überwiegend aus homogenem Material, dem örtlichen Sandstein; an drei Tagen war die Geschichte der Stadt durch die Bomben ausgelöscht worden, in den Jahren danach wurde auch die zuvor prägnante Figur des Kerns durch die neuen Verkehrstrassen fast vollständig verwässert; das Stadtzentrum hatte seine Identität verloren;
2019 hat man sich mit dem Schulbauprogramm - im Rahmen des Kommunalinvestitionsgesetzes „gute Schule“ gefördert - einen neuen Plan Voisin ausgedacht, der auch den größeren und kleineren Ortszentren, die teilweise vom Krieg verschont geblieben waren, Relikte architektonischer Würde und Wiedererkennung nehmen wird oder schon genommen hat; dieser Plan geht äußerst unreflektiert mit den baulichen Beständen um; er umfasst 174 Abriss- und Neubauprojekte mit einem Volumen von mittlerweile 1,8 Milliarden Euro; schon die Formulierung der Aufgabenstellung stellte die Weichen in die falsche Richtung, weil in ihr nicht hinterfragt wird, was auch schon vor vier Jahren hätte hinterfragt werden müssen, bevor es an die Veränderung von Bausubstanz geht, geschweige denn: an deren Abriss, der immer eine Vernichtung von Werten ist, materiellen und immateriellen, wie die zahlreichen Initiativen zeigen, die gegründet wurden, um für den Erhalt der Gebäude zu kämpfen; kann Wärmeschutz ein Grund für den Abbruch eines intakten 120 Jahre alten Gebäudes sein?, kann die Änderung eines pädagogischen Konzeptes so gravierend sein, dass dafür Tausende von Kubikmetern hochwertiger, vor erst 40 Jahren errichteter Bausubstanz abgerissen werden müssen?; scheinbar ja, denn dieser Weg ist hier eingeschlagen worden,
um es deutlich zu machen, ein Auszug aus der Liste der Abbruchmaßnahmen (Stand 9.11.21):
Anne-Frank-Gesamtschule (ehemaliges Brüder Krankenhaus) – Brechtener Grundschule – Sporthalle
Konrad-von-der-Mark-Hauptschule – Widey Grundschule – Diesterweg Grundschule – Grundschule
Kleine Kielstraße – Nordmarkt Grundschule – ehemalige Vincke Grundschule – Gertrud-Bäumer-Realschule – Albrecht-Brinkmann-Grundschule – Pavillons Oesterholz-Grundschule – KreuzGrundschule – Sporthalle Aplerbecker-Mark-Grundschule – Sporthalle Schule an der Froschlake – Sporthalle Reichshof-Grundschule – Sporthalle Brukterer-Grundschule – Sporthalle Evinger Parkweg – Sporthalle Marie-Reinders-Realschule – Sporthalle Höchstener Grundschule, Kerschensteiner Grundschule,…
diese Liste der Trauer ist noch nicht vollständig; zahlreiche weitere Schulstandorte werden nach denselben Kriterien auf ihre Wirtschaftlichkeit und Zukunftsfähigkeit, d.h. immer wieder nur auf ihre Übereinstimmung mit den aktuellen Anforderungen an Brandschutz, Wärmeschutz, Technik und an das pädagogische Konzept hin überprüft, was für die meisten einem Abbruchurteil gleich kommen wird; niemand interessiert sich offenbar für die graue Energie des Bestands und für die Verbindung der Menschen zu ihrem Lebensort, die über die Wiedererkennbarkeit ihrer Architekturformen entsteht; das bisherige Schulbauprogramm ist von den politischen Vertreter:innen der Stadt auf Empfehlung der Verwaltung gut geheißen und beschlossen worden; das damit ausgelöste Abbruchvolumen ist vermutlich die größte Bausubstanzvernichtung seit den Kriegszerstörungen; wenn wir auf unserer Tour also die Bagger ihr Werk beginnen sehen, wissen wir, dass hier wieder Dauerhaftes durch weniger Dauerhaftes ersetzt wird; für wie lange sollte ein Haus gebaut werden?
Richard Schmalöer, im März 2023
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